Something is rotten …

29. Juni 2012 bis 2. September 2012

Ortsbezogene Gruppenausstellung mit Arbeiten von Ines Kleesattel, Sabine Linse, Anke Müffelmann, Ute Diez & Chili Seitz, Birgit Saupe, Triloff und Stefan Oppermann sowie Objekten aus der Medizin- und Pharmaziehistorischen Sammlung der CAU Kiel und Fundstücken vom Anschargelände

Die ortsbezogene Gruppenausstellung Something is rotten … zeigte ausgewählte Arbeiten von Ines Kleesattel, Sabine Linse, Anke Müffelmann, Ute Diez & Chili Seitz, Birgit Saupe, Triloff und Stefan Oppermann. Ausgehend von dem Hamlet-Zitat „Something is rotten…”(1. Aufzug, 4. Szene) und im Zusammenspiel der künstlerischen Positionen wurden vielfältige Assoziationsräume und ambivalente Perspektiven entwickelt. Entlang der ‚unschuldigen’ Nebenfigur „Ophelia“ und den Bedeutungsfeldern „Frau“, „Wahnsinn“, „Wasser“ und „Tod“ entfalten die Symbole der Verstrickung eine anspielungsreiche Reflexionsmatrix. „Psychose“, „Realitätsverlust“, „Experiment“ werden den „Gegengiften“ der Kunst, Philosophie und Wissenschaft und anderen Strategien der Selbstbehauptung ausgesetzt. Die historischen Leihgaben aus der Medizin- und Pharmaziehistorischen Sammlung der Christian-Albrechts-Universität treten in sinnfällige Korrespondenzen zu den Exponaten der Ausstellung.

Mit dieser ortsbezogenen Gruppenausstellung setzt der Kunstverein Haus 8 e.V. auch die „Ortsbefragung“ vom Herbst 2011 (siehe Archiv) fort. Die Besucher/innen sind eingeladen, ihre Geschichten, Erinnerungen und Bezüge zum ehemaligen Krankenhaus in einem Gästebuch niederzuschreiben oder Erinnerungsstücke wie z.B. Fotografien oder Gegenstände mitzubringen.

Zur Ausstellung erscheint ein Katalog.

Gefördert durch:
Ministerium für Justiz, Europa und Kultur des Landes Schleswig-Holstein
Amt für Kultur und Bildung der Landeshauptstadt Kiel
radius of art | Heinrich-Böll-Stiftung Schleswig-Holstein
Stiftung Drachensee und dem Offenen Kanal Kiel

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Somthing is rotten …

Gesellschaft im Wandel
1604: Europa im Wandel, die Schwelle vom Mittelalter zur Renaissance wird betreten. Shakespeare schreibt eine Trägödie, in der sich die Personen in Widersprüchen und Brüchen verheddern, den „Hamlet“. Er schafft ein frühes Gesellschaftsbild, das die unaufhaltsamen Verstrickungen in Konfliktsituationen beim Namen nennt. Die Welt ist aus den Fugen geraten. Die Menschen spüren den Umbruch und das Zerbrechen alter Ordnungen. 100 Jahre vor Beginn der Aufklärung und Entstehung bürgerlicher Gesellschaftsformen und –kulturen liefert der „Hamlet“ eine Folie, die von jeder Generation Künstler neu entdeckt wird. Doch der „Hamlet“ begleitet auch sein Publikum durchs Leben, nicht zuletzt durch Redensarten wie „Sein oder Nicht-Sein“, „Bereit sein ist alles.“, „Der Rest ist Schweigen.“ Er ist ein Paradigma für das Lebensgefühl einer Zeit, dem das Vertrauen abhanden gekommen ist.

Die Figur der Ophelia
Die ehemalige Geliebte des jungen Prinzen Hamlet versinkt wie (fast) alle Figuren der Tragödie im Strudel von Macht, Gewalt, Tod und Misstrauen. Den wundersamen Spiegelungen des Wahnsinns von Hamlet hat Ophelia nichts entgegenzusetzen als ihr Vertrauen in die Familienbande und ihre sorgende, doch ins Leere gehende Liebe. Im Gegensatz zu Hamlet sind Ophelia die Wege der Recherche, Erkenntnis und logischer Schlussfolgerung verschlossen; sie versteht nicht, was passiert und verfällt – Hamlet spiegelnd – in Hysterie. Als sie die Liebe des Prinzen und den Vater durch eine tragische Verwechslung verliert, sucht sie im Wasser den Tod. Die schöne Wasserleiche Ophelia ist von den bildenden Künstlern über alle Jahrhunderte hinweg immer wieder neu interpretiert worden. Künstler wie John Everett Millais, John William Waterhouse, Odilon Redon und Alexandre Cabanel zeigen sie im romantisch-verklärten „Wasserbett“. Blumengeschmückt überlebt Ophelia – als Projektionsfläche für Konflikte im Spannungsfeld von Hysterie und Einsamkeit, unglücklicher Liebe und gesellschaftlicher Desorientierung alle Epochen bis in die Gegenwart.

Das Atelierhaus im Anscharpark
Das Atelierhaus im Anscharpark – einst Militärhospital – verlangt nach einer gleichermaßen authentisch fokussierten wie künstlerisch offenen Geschichtsrekonstruktion. Im Rahmen einer Ortsbefragung hat der Kunstverein Haus 8 e.V. im Herbst 2011 Zeitzeugenberichte ehemaliger Patienten und Mitarbeiter gesammelt. Berührt haben uns Schilderung von „wissenschaftlichen“ Humanexperimenten unter dem Vorwand des medizinischen Fortschritts, die hierarchischen Umgangsformen zwischen Schwestern, Ärzten und Patient/innen, sowie Krankengeschichten, die die Macht- und Hilflosigkeit der Patienten zum Ausdruck brachten. Nun ist dieses Gebäude – das Atelierhaus im Anscharpark – selbst im Wandel begriffen. Mit dieser ortsbezogenen Gruppenausstellung will der Kunstverein Haus 8 e.V. einen offenen Dialog führen. Die Besucher sind eingeladen, ihre Geschichten in einem Gästebuch niederzuschreiben.

DIE KÜNSTLERINNEN UND KÜNSTLER

Ute Diez & Chili Seitz: „thinking off – dem Haus 8 gewidmet“
Die in Kiel lebenden Künstlerinnen Ute Diez und Chili M. Seitz (Gewinnerin des Muthesius Preises für Kunst, Raum und Design, Bereich Kunst 2012) greifen in ihrer typographischen Wandinstallation (thinking off – dem Haus 8 gewidmet) auf Ortsbefragungen zurück, die sie im Herbst 2011 gemacht haben und schaffen eigens für die Ausstellung eine neue ortsbezogene Arbeit. In einer fragmentarischen Dokumentation rekonstruieren die beiden Künstlerinnen Typologien eines verwalteten Alltags. Die Erinnerung und ihre Wandelbarkeit, das Spiel mit Wahrheit und Fiktion sowie die nie fehlerfreie mündliche Überlieferung von Erlebnissen und Ereignissen stehen im Zentrum der Betrachtung. Der künstlerische Beitrag der beiden Künstlerinnen geht der Frage nach, wie ‚wir uns unsere eigenen Erinnerungsprothesen bauen’.

Stefan Oppermann: Haubenträger
Zehn der 20 „Haubenträger“, die Stefan Oppermann in präziser, serieller Reihung präsentiert, sind 2012 neu entstanden – in gedanklicher Nähe zur Ausstellung. Sie tragen Titel wie „Durchbrüche“, „Adern“, „Tränentrichter“, „Schraube“, „Teleskop“, „Mond“, „Krake“, „Blauhelm“, „Lila Noppen“ oder „Nackenschlauch“ und eröffnen wie die Zeichnung „Doppelich“ (2011) einen stummen Dialog mit den Exponaten der anderen Künstler und Künstlerinnen. Die Gesichter der auf Leinwand gemalten „Haubenträger“ scheinen entindividualisiert, wirken erschöpft, in einem beunruhigenden Zustand nervösen Schlafs oder eines anderen Dämmerzustands, der sie unempfindlich machen soll. Sie scheinen allein durch die jeweilige Versuchsapparatur charakterisiert: Jeder Kopf steht für ein Experiment. Die albtraumhafte Typologie findet in unterschiedlichen monochromen Farbräumen statt, in Farbfeldern ohne Koordinaten, scheinbar raum- und zeitlos. Die „Haubenträger“ könnten einem historischen Hochleistungslehrbuch der Medizin- oder Gentechnik, der Raumfahrt, der Tiefseeforschung oder Seuchenbekämpfung entnommen sein. Niemand weiß es … immer jedoch scheinen die Hüllen, Zapfen, Näpfe und Stachelhauben direkt auf die „Lebensnerven“ der ‚Patienten’ zu wirken, um ihnen eine vordergründige Hilfe zu offerieren. Die innere Absurdität dieser Humanexperimente scheint jede Rehabilitationshoffnung auszuschließen. Durch die serielle Reihung werden die Einzelschicksale zu einer sich selbst bestätigenden Realität.

Ines Kleesattel: Ophelien
In der ehemaligen Wasch- und Dampfküche des ehemaligen Versorgungshauses zeigt Ines Kleesattel die 2-Kanal-Videoinstallation „Ophelien“ (2008). Mit extremer Sachlichkeit macht die in Wien lebende Künstlerin und Kunsttheoretikerin den Betrachter zum Zuschauer einer privaten Videoperformance: Eine Frau (die Künstlerin selbst) rupft nackt in einer Badewanne einen Truthahn. Die zahlreichen Umschnitte betonen die Geschäftigkeit dieser irrealen Situation. Obszönität und Ekel wirken jeglicher Romantik entgegen und sind, wie die Künstlerin selbst sagt, als „ihre feministische Aneignung und Umdeutung des Ophelien-Motivs“ zu lesen. Die Figur der Ophelia vereinigt für sie tradierte Bilder des Weiblichen, insbesondere das Motiv des Wassertodes und das Bild der romantisch-schönen Leiche verbindet Ines Kleesattel mit der ‚Ikonografie’ der hysterischen Frau. Auf einem zweiten Bildschirm wird in einem Lauftext eine Zitatensammlung aus der Geschichte der Hysterieforschung – von der Antike, über die Renaissance, das 19. Jahrhundert bis in die jüngste Vergangenheit – gezeigt. Found-Footage-Szenen aus Filmen mit Szenen hysterischer Frauen unterbrechen die Historie der als‚weiblich’ geltenden Krankheit und spiegeln die männliche und die weibliche Perspektive ineinander. Der Unentrinnbarkeit der Hysterie durch die gesellschaftliche Ächtung und ihrem tragischen Ende im Selbstmord der Ophelia stellt Ines Kleesattel eine meditative, körperlich anstrengende (dabei aber weniger selbstzerstörerische) Aktion gegenüber: das Hühnchen wird gerupft. Die zahlreichen mythologischen (Leda mit dem Schwan), kunsthistorischen (John Everett Millais, John William Waterhouse, Odilon Redon) und performancegeschichtlichen Bezüge (Kurt Kren, Bruce Naumann, Mariana Abramović, Carolee Schneemann) zeigen, dass sich das Leben des Körpers verschiedenartiger ausdrückt, als es sich unsere Gesellschaft eingesteht.

Birgit Saupe: Lab03.APH8
Birgit Saupe verwendet unglasiertes, hochgebranntes Porzellan als reines, weißes, elitäres und traditionsbehaftetes Material. Porzellan schrumpft im Brennprozess und „gestaltet“ die Körperoberflächen zufällig und dennoch endgültig. Nach dem Brennvorgang erstarrt das Material für die Ewigkeit und transportiert Vergangenes in Zukünftiges. Porzellan ist dabei gleichzeitig fixierendes Präparat wie Basismaterial menschlicher Prothesen. Birgit Saupe befasst sich in ihrer künstlerischen Arbeit mit dem wissenschaftlichen Verhältnis von Mensch, Maschine und Tier sowie deren Hybridisierungen. Tier und Mensch spiegeln sich in anthropomorphen Bildern und Gesten ineinander. Erkenntnistheoretische Fragen wie „Was ist Fiktion und was Realität?“ drängen sich auf. Birgit Saupe sagt selbst über ihre Arbeit: „Meine Arbeit funktioniert auf mehreren Ebenen. Eine davon ist die Angst. Angst vor dem Tod, Angst vor dem Leben, dem Abnormen (…), Angst vor der Erzeugung von Monströsem“. Ihre Beschäftigung mit „Körperlichkeit“ ist durch die Ambivalenz und Zufallsfähigkeit des Materials bestimmt: „Es entstehen Figuren in einem unbestimmten Zustand zwischen Leben und Tod, zwischen „geschändet“ und „erhaben“ (…), zwischen „künstlich“, „natürlich“, „organisch“ und „anorganisch“. Mit „Lab03.APH8“, das an das Rohrsystem des Atelierhauses angeschlossen, ist rückt Birgit Saupe ein argloses, deformiertes Lebewesen in das Zentrum einer skulpturalen Versuchsanordnung. Die Aussichtslosigkeit dieser Kreatur zwischen Leben und Tod ist bedrückend. Das tiefe Mitleid für ein unschuldig-leidendes Tier verbindet sich mit der Frage nach dem Wissenschaftler, der allein schon durch seine Abwesenheit zum perfiden „spiritus rector“ aufsteigt. Die Plastik „Lamb“ (Privatsammlung) nimmt durch ihre Haltung eine stille Korrespondenz mit dem Motiv der Ophelia auf.

Sabine Linse: Evolutionspsychosen III
Die fünf an naturhistorische Augen-Präparate erinnernden Objekte aus der Serie Evolutionspsychosen III (2010) von Sabine Linse führen den Betrachter in einen Schwebezustand zwischen physischer Realität und Phantasie und ergänzen die Sammlung der wirklichen und unwirklichen medizinischen Präparate. Die in Berlin lebende Künstlerin stellt die Evolutionspsychosen III in das Spannungsfeld der Ophelia. Die „Dunklen Fische“ (Aquarell, 1999) und das bisher unveröffentlichte Gedicht „Seelied“ (1999) schaffen durch die Verbindung von Wasser / Augen, Ophelia / Fische eine hermetische Atmosphäre, die sich in einer unendlichen Bedeutungsschleife verfängt: Ohne Wurzeln ertasten die Evolutionspsychosen III die möglichen, fixierenden Ortsbezüge.

Anke Müffelmann: Tränenmelkmaschine
Aus der Keramik kommend beschäftigt sich Anke Müffelmann mit Gefäßen und ihren kulturell aufgeladenen Bedeutungen, deren tradierte Symbolik sie zu neuen Gleichnissen verwandelt. Die Installation Tränenmelkmaschine (2011) zeigt auf den ersten Blick „ganz normale“ medizinische Geräte: Reagenzgläser, Mörserschalen, Pipetten, Schläuche und Spritzen. Erst auf den zweiten Blick wird das medizinische Gerät verdächtig: Die überdimensionale Pipette ist mit einem in sich verknoteten Schlauch verbunden, aus der textilen Hülle tropfen silberne Perlen. Keramische Auffanggefäße deuten ebenso auf eine physisch unangenehme Prozedur wie die Spritzen. Es zeigt sich: Die Tränenmelkmaschine gehört in die Welt kafkaesker Unbehaglichkeiten. Interkulturalität und die Auseinandersetzung mit fremdartigen Ritualen spielen für Anke Müffelmann eine besondere Rolle. Ihr Interesse gilt den Widersprüchen im Geschlechterverhältnis unterschiedlicher Kulturen, klischeehaften Rollenzuschreibungen und festgeschriebenen wie festschreibenden Projektionsflächen für Angst, Trauer und Identität. Entstanden aus einer absurden Traumsequenz simuliert Anke Müffelmann eine medizinisch-psychologische Laborsituation, die es ermöglichen soll, ‚ungeweinte’ (männliche) Tränen von ausgewählten Frauen weinen zu lassen, um die ‚Trauerarbeit’ an den weiblichen Teil der Gesellschaft zu delegieren. In der Traumsequenz verwehrt sich die Protagonistin dieser Zwangsbehandlung und erfährt von den behandelnden Ärzten, dass aus Verweigerung und Trotz geweinte Tränen den männlichen Patienten (offenbar) nicht helfen würden -‚Authentizität’ der Trauer gefordert sei. Sie kommt frei. Darf jedoch keinen Schleier tragen.

Triloff: Gagballbabys
Seit 2010 entstehen in Triloffs Atelier Gagballbabys – omnipotente und omnipräsente Phantasiewesen, die auf den ersten Blick lustig erscheinen. Statt einer Nase und einem Mund haben sie einen roten Ball– einen ‚Gagball’ – im Gesicht, der unter den Ohren an einem schwarzen (Gummi-)Band befestig, ihnen für jede Situation die nötige Portion Humor einflösst. Die „Gagballs“ erinnern an mittelalterliche Beisbälle, die „Gagballbabys“ durch ihre Uniformität an die zynischen Figuren in dem Film „A Clockwork Orange“ von Stanley Kubrick. Für die Ausstellung im Haus 8 e.V. hat Triloff eine besondere Auswahl getroffen: Er zeigt Gagballbabys, die sich der medizinischen bzw. gentechnischen Forschung verschrieben haben. Mit Neugier und vielleicht auch mit Voyeurismus ausgestattet, scheinen sie abnorme Phänomene mit geradezu freudiger Aufmerksamkeit zu beobachten. Mal belauschen sie (vielleicht selbstgezüchtete) schwimmende Gagballbabys und schaffen einen ironischen Bezug zum Thema „Wasser / Ophelia“. Mal scheinen sie das ‚Weibliche’ zu erforschen, mal das ‚Unheimliche’ oder ‚Dickleibige’. Ihre Neugier ist dabei keineswegs vertrauenerweckend, insbesondere, wenn sie uniformiert und im Team auftreten oder fordern: „Der Chirgurgie mehr Phantasie“. In den vergangenen Jahren hat Triloff eine Hamburger Hafenbarkasse (Bj. 1921) als „Kunst-Forschungsschiff“ betrieben, Geschichten rund um die fiktive in der Barentssee versunkene Insel „Novaya Insolvanya“ inszeniert und Auftritte mit dem „Novaya Insolvanya Symphony Orchestra“ organisiert. Die wie Fischkörper anmutenden Präparate, die Triloff in der Ausstellung präsentiert, sind in diesem Kontext entstanden und transformieren das ophelische Thema in die Welt evolutionärer Kunst-Experimente.

Konzept & Text: Verena Voigt M.A., Kunsthistorikerin

Veranstalter: Kunstverein Haus 8 e.V.